Der Sommer des Jahres 1978 war für die katholische Kirche wahrlich kein x-beliebiger Sommer. Im Laufe von nur wenigen Wochen fanden sich die Kardinäle zweimal im Konklave zusammen, um den Nachfolger Petri zu wählen. Am 6. August war nämlich, nach 15 Jahren Pontifikat, Paul VI. gestorben. Am 26. September jenes Jahres hätte er seinen 81. Geburtstag begehen können. So wurde dann, am 26. August, nach einem „Blitzkonklave“ – zwei Tage und vier Wahlgänge – der Patriarch von Venedig, Albino Luciani, zum Papst gewählt: Johannes Paul I. Er wäre am 17. Oktober 66 Jahre alt geworden. Doch diesen Geburtstag konnte er nicht mehr feiern: sein Pontifikat dauert gerade 33 Tage. Am Morgen des 28. September fand man den Papst tot in seinem Schlafzimmer. So versammelte sich das Kardinalskollegium also erneut zum Konklave, bei dem am 16. Oktober – nach acht Wahlgängen in drei Tagen – der 58jährige Erzbischof von Krakau, Karol Wojtyla, zum Papst gewählt wurde. Er nahm den Namen Johannes Paul II. an und wurde der erste polnische Papst in der Geschichte, der erste Nicht-Italiener nach 456 Jahren.
30Tage wollte nun, fünfundzwanzig Jahre später, an diese dramatischen Ereignisse jenes Sommers erinnern und bat Kardinal Joseph Ratzinger um ein Gespräch. Der 76Jährige ist zweifelsohne der bekannteste unter den 21 Kardinälen des derzeitigen Kardinalskollegiums, die an den beiden Konklaven von 1978 teilgenommen haben. Der bayrische Kardinal erzählte uns auch von seinen Begegnungen und Gesprächen mit Papst Montini und Luciani in den Jahren 1977 und 1978.
Kardinal Joseph Ratzinger vorzustellen, erübrigt sich. Der Theologe, der sich seit der Zeit des II. Vatikanischen Konzils einen Namen gemacht hat, wurde 1977 zum Erzbischof von München und Freising ernannt und von Paul VI. zum Kardinal kreiert. Er ist derzeit der einzige, von Montini kreierte europäische Kardinal, der in ein eventuelles Konklave einziehen würde. Ratzinger, der 1981 von Papst Wojtyla nach Rom gerufen wurde, steht seither der Kongregation für die Glaubenslehre vor, der Päpstlichen Bibelkommission und der internationalen Theologenkommission. Er ist der bisher dienstälteste Dikasterienleiter in der Römischen Kurie. Im November 1998 wurde er zum Vizedekan des Kardinalskollegiums gewählt, Ende vergangenen Jahres zum Dekan.
Eminenz, Paul VI. ernannte Sie am 24. März 1977 zum Erzbischof von München, drei Monate später kreierte er Sie zum Kardinal.
Kard. Ratzinger: Zwei oder drei Tage nach meiner Bischofsweihe am 28. Mai wurde ich von meiner Ernennung zum Kardinal informiert, die also fast mit der Bischofsweihe zusammenfiel. Es war eine große Überraschung für mich. Ich habe noch heute keine Erklärung dafür. Ich weiß jedoch, daß Paul VI. um mein Wirken als Theologe wußte. Er hatte mich nämlich schon ein paar Jahre vorher – ich glaube 1975 – gebeten, im Vatikan die geistlichen Exerzitien zu predigen. Ich fühlte mich damals jedoch weder im Italienischen noch im Französischen sicher genug, um mich auf ein solches Abenteuer einzulassen, und lehnte ab. Aber es war ein Beweis dafür, daß mich der Papst kannte. Msgr. Karl Rauber, der heute Nuntius in Belgien ist und damals eng mit dem Substituten Giovanni Benelli zusammenarbeitete, könnte etwas damit zu tun gehabt haben. Tatsache ist, daß mir gesagt wurde, daß bei den drei zur Wahl stehenden Kandidaten für das Amt des Erzbischofs von München und Freising die persönliche Wahl des Papstes auf meine Wenigkeit fallen würde.
Das Konsistorium vom 27. Juni 1977 war eine Art „Minikonsistorium“ mit nur fünf neuernannten Kardinälen...
Kard. Ratzinger: Ja, wir waren eine kleine, interessante und sympathische Gruppe. Bernardin Gantin war dabei – außer mir der einzige, der noch lebt. Dann noch Mario Luigi Ciappi, der Theologe des Päpstlichen Hauses, Benelli natürlich, und Frantisek Tomasek, der bereits ein Jahr zuvor in pectore ernannt worden war und mit uns zusammen den Kardinalspurpur erhielt.
Wie man hört, soll Benelli, den man am 3. Juni zum Erzbischof von Florenz ernannt hatte, die Namen für dieses „Minikonsistorium“ „ausgesucht“ haben...
Kard. Ratzinger: Mag sein. Ich habe nie den Wunsch verspürt, diesen Dingen auf den Grund zu gehen. Und das will ich auch jetzt nicht. Ich respektiere die Vorsehung, und es interessiert mich nicht, welcher Werkzeuge sie sich bedient.
Welche Erinnerung haben Sie an diese Zeremonie?
Kard. Ratzinger: Bei der Überreichung des Biretts in der Aula Paul VI. hatte ich den anderen neuernannten Kardinälen gegenüber einen großen Vorteil. Keiner der anderen vier Kardinäle hatte eine große Familie dabei. Benelli hatte lange in der Kurie gearbeitet, er war in Florenz nicht sehr bekannt, und deshalb waren auch nicht viele Gläubige aus der toskanischen Hauptstadt gekommen; Tomasek – damals gab es den Eisernen Vorhang noch – konnte gar keine Begleiter mitbringen; Ciappi war ein Theologe, der sozusagen stets auf seiner Insel gearbeitet hatte; Gantin stammt aus Benin, und für Afrikaner ist es bis Rom ja nicht gerade ein Katzensprung. Für mich dagegen waren viele Menschen da: fast alle in der Aula Versammelten waren aus München oder Bayern.
Da haben Sie Eindruck gemacht...
Kard. Ratzinger: Offensichtlich. Ich bekam den meisten Applaus. Die Präsenz der Gläubigen aus München war nicht zu übersehen. Und der Papst war sichtlich zufrieden, seine Wahl sozusagen bestätigt zu sehen.
Hatten Sie Gelegenheit, sich mit dem Papst zu unterhalten?
Kard. Ratzinger: Nach der Liturgie, bei der uns der Papst den Ring überreichte, sagte man mir, daß mich Paul VI. in Privataudienz sprechen wollte. Ich war viele Jahre lang ein einfacher Professor gewesen, weit entfernt von den Spitzen der Hierarchie, und wußte nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte, fühlte mich in dieser Situation etwas unbehaglich. Ich wagte es nicht, mit dem Papst zu sprechen, weil ich mir zu unbedeutend vorkam, er aber war sehr freundlich zu mir und ermutigte mich. Es war ein Gespräch, das keinen spezifischen Zweck verfolgte; er wollte mich einfach nur kennenlernen, vielleicht, weil Benelli ihm von mir erzählt hatte.
Was ist Ihnen aus dem letzten Pontifikatsjahr von Paul VI. noch in Erinnerung?
Kard. Ratzinger: Ich war damals zusammen mit den anderen bayrischen Bischöfen zum ad-limina-Besuch nach Rom gekommen. Dabei hatten wir eine sehr schöne Begegnung mit dem Papst. Paul VI. begann, deutsch zu sprechen, was er auch ganz gut machte, aber dann ging er doch wieder zum Italienischen über, weil die Kommunikation so einfacher war. Er war sehr offen und herzlich, erzählte uns von seinem Leben und seiner ersten Begegnung mit unserer Heimat. Er berichtete, daß er sich recht verloren gefühlt hatte, als man ihn als jungen Priester nach München geschickt hatte, daß ihm aber viele Menschen begegnet waren, die ihm geholfen hatten. Es war ein persönliches Gespräch, ohne große Ansprachen: es war offensichtlich, daß er uns sein Herz öffnen, mit einigen seiner Mitbrüder im Bischofsamt einfach nur ein paar Erinnerungen teilen wollte.
Sind Sie während des Pontifikats Pauls VI. noch öfters nach Rom gekommen?
Kard. Ratzinger: Ja, zu seinem achtzigsten Geburtstag [am 26. September 1977, Anm.d.Red.]. Am 16. Oktober feierte er in St. Peter eine feierliche Messe. Als er dabei einen Vers aus der Göttlichen Komödie zitierte, in dem Dante von „jenem Rom“ sprach, „wo Christus selbst ein Römer“ [Läuterungsberg, 32. Gesang, 102, Anm.d.Red.], war ich sehr beeindruckt. Paul VI. stand in dem Ruf, ein Intellektueller zu sein, der mit anderen nicht leicht warm wurde. In jenem Moment aber hatte er eine unerwartete Wärme für Rom gezeigt. Ich kannte diese Worte Dantes nicht, oder konnte mich zumindest nicht daran erinnern. Sie haben mich wirklich sehr beeindruckt. Es waren Worte, mit denen Paul VI. seine Liebe für Rom zum Ausdruck bringen wollte, das zur Stadt des Herrn geworden ist, zum Zentrum Seiner Kirche.
Wie haben Sie vom Tod Montinis erfahren?
Kard. Ratzinger: Ich machte gerade in Österreich Urlaub. Am Morgen des 6. August sagte man mir, daß sich der Heilige Vater plötzlich unwohl gefühlt hatte. Ich rief den Generalvikar in München an, und bat ihn, sofort die ganze Diözese aufzufordern, für den Papst zu beten. Dann machte ich einen kurzen Ausflug, und als ich zurückkam, erhielt ich einen Anruf, in dem man mir mitteilte, daß sich der Gesundheitszustand des Papstes verschlechtert hätte. Kurz danach rief man mich wieder an und sagte mir, daß er gestorben sei. Ich beschloß, am nächsten Morgen nach München zu fahren, und gab noch am selben Abend fürs Fernsehen ein Interview. Dann schrieb ich einen Brief an die Diözese und machte mich auf den Weg nach Rom.
Wo Sie an der Beerdigung des Papstes teilnahmen.
Kard. Ratzinger: Mich beeindruckte die absolute Schlichtheit des Sarges mit dem Evangelienbuch darauf. Diese vom Papst gewollte Armut war fast schon schockierend. Aber auch die Totenmesse war beeindruckend: sie wurde von Kardinal Carlo Confalonieri zelebriert, der über achtzig war und daher nicht am Konklave teilnehmen konnte: er hielt eine eindrucksvolle Homilie. Und beeindruckend war auch die Messe von Kardinal Pericle Felici, in der er beschrieb, wie der Wind bei der Beerdigung des Papstes die Seiten des Evangelienbuches umgeblättert hätte, das auf dem Sarg lag. Ich kehrte dann nach München zurück, um ein Requiem zu feiern: der Dom war zum Bersten voll. Danach machte ich mich wieder auf den Weg nach Rom, um am Konklave teilzunehmen.
Sie waren damals sozusagen ein „Kardinalsneuling“...
Kard. Ratzinger: Ich war einer der jüngsten, aber da ich Diözesanbischof war, gehörte ich der Klasse der Kardinalpriester an und kam daher protokollarisch noch vor vielen Kurienkardinälen, die der Klasse der Diakone angehörten. So nahm ich also nicht einen der letzten Plätze ein. Ich erinnere mich daran, daß ich beim Essen, wo ebenfalls die Rangordnung beachtet wurde, zwischen den Kardinälen Silvio Oddi und Felici saß, zwei „italianissimi“ unter den Kardinälen.
Hatten Sie tatsächlich eine wichtige Rolle in diesem Konklave?
Kard. Ratzinger: Es ist wahr, daß wir uns mit einigen deutschsprachigen Kardinälen ein paar Mal getroffen haben. Bei diesen Treffen war Joseph Schöffer dabei, der ehemalige Präfekt der Kongregation für das katholische Bildungswesen, Joseph Höffner aus Köln, der große Franz König aus Wien, Alfred Bengsch aus Berlin; und schließlich noch die deutschstämmigen Brasilianer Paulo Evaristo Arns und Aloísio Lorscheider. Wir waren eine kleine Gruppe. Es lag ganz und gar nicht in unserer Absicht, irgendwelche Entscheidungen zu treffen; wir wollten uns einfach nur ein wenig unterhalten. Ich habe mich von der Vorsehung leiten, die Namen an mir vorbeiziehen lassen und dann sehen können, wie sich schließlich ein Konsens zugunsten des Patriarchen von Venedig herausbildete.
Kannten Sie ihn?
Kard. Ratzinger: Ja, ich hatte ihn persönlich im August 1977 kennengelernt, als ich mich in den Sommerferien im Priesterseminar von Brixen aufhielt. Albino Luciani stattete mir dort seinen Besuch ab. Südtirol gehört zur Kirchenprovinz „Dreivenetien“, und da er ein ausgesprochen freundlicher Mann war, fühlte er sich als Patriarch von Venedig geradezu verpflichtet, seinen jungen Mitkardinal aufzusuchen. Ich selbst fühlte mich eines solchen Besuches unwürdig. Bei dieser Gelegenheit konnte ich seine große Einfachheit bewundern, aber auch seine umfassende Bildung. Er erzählte mir, diese Gegend sehr gut zu kennen. Als Kind war er mit seiner Mutter zum Marienheiligtum von Weißenstein gepilgert, einem Kloster italienischsprachiger Serviten auf 1000 Meter Höhe, das von den Gläubigen Ventiens häufig aufgesucht wurde. Luciani hatte viele schöne Erinnerungen an diese Stätten, weshalb er auch besonders gern nach Brixen gekommen war.
Vorher hatten Sie noch nicht seine Bekanntschaft gemacht?
Kard. Ratzinger: Nein. Ich lebte, wie ich schon sagte, in der akademischen Welt, weit entfernt von der Hierarchie, und die Spitzen der Kirche waren mir nicht persönlich bekannt.
Sind Sie ihm dann noch einmal begegnet?
Kard. Ratzinger: Nein, erst beim Konklave von 1978.
Hatten Sie dort Gelegenheit, ein paar Worte mit ihm zu wechseln?
Kard. Ratzinger: Ja, aber nur wenige, schließlich kannten wir uns. Es gab viel zu tun und zu meditieren.
Was haben Sie bei seiner Wahl empfunden?
Kard. Ratzinger: Ich war sehr glücklich. Einen so gütigen Mann mit einem so leuchtenden Glauben als Hirten der universalen Kirche zu haben, war eine Garantie dafür, daß alles gut gehen würde. Für ihn selbst war es eine Überraschung, und er war sich der großen Verantwortung wohl bewußt. Man konnte sehen, daß ihm das ein bißchen zu schaffen machte. Er hatte nicht mit seiner Wahl gerechnet. Er war kein Mann, der Karriere machen wollte, sondern empfand die Ämter, die man ihm übertragen hatte, als Dienst und auch als Leiden.
Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen?
Kard. Ratzinger: Am Tag seiner Amtseinführung, am 3. September. Die Erzdiözese München und Freising ist Partnerdiözese der Diözesen Ecuadors, und in Guayaquil war für den Monat September ein nationaler marianischer Kongress angesetzt worden. Die Bischöfe des Landes hatten darum gebeten, daß ich der Päpstliche Delegat bei diesem Kongress sei. Johannes Paul I. hatte das Ansuchen bereits gelesen und zugestimmt; wir sprachen also bei den traditionellen Glückwünschen der Kardinäle über meine Reise, und er erbat den Segen über mich und die ganze Kirche in Ecuador.
Sind Sie dann nach Ecuador geflogen?
Kard. Ratzinger: Ja, und dort ereilte mich die Nachricht vom Tod des Papstes. Übrigens auf recht merkwürdige Weise. Ich schlief im Bischofshaus von Quito. Ich hatte die Tür nicht verschlossen, denn im Haus des Bischofs fühle ich mich geborgen wie in Abrahams Schoß. Es war mitten in der Nacht, als plötzlich ein Lichtstrahl in mein Zimmer fiel und eine Person im Karmelitenhabit hereinkam. Über das Licht und diese so düster gekleidete Person, die mir wie ein Unheilsbote vorkam, hatte ich mich ein wenig erschreckt. Ich war mir nicht sicher, ob ich wach war oder träumte. Doch dann erkannte ich, daß es sich um den Weihbischof von Quito handelte [Alberto Luna Tobar, heute emeritierte Erzbischof von Cuenca, Anm.d.Red.]. Er sagte mir, daß der Papst gestorben sei. So erfuhr ich also von diesem traurigen und vollkommen unerwarteten Ereignis. Trotz dieser Nachricht gelang es mir, mit Gottes Hilfe wieder einzuschlafen. Am darauffolgenden Morgen feierte ich mit einem deutschen Missionar die Messe, der in den Fürbitten „für unseren toten Papst Johannes Paul I.“ betete. An dem Gottesdienst nahm auch mein Sekretär teil, der ein Laie war, und der danach zu mir kam und mich sichtlich bestürzt darauf aufmerksam machte, daß sich der Missionar im Namen geirrt hätte, daß er für Paul VI. hätte beten müssen, nicht für Johannes Paul I. Er wußte noch nicht, daß Albino Luciani tot war.
Sie haben den Papst beim Konklave gesehen. Sie haben ihm Ihre Glückwünsche überbracht. Kam er Ihnen da wie ein Mann vor, der nur einen Monat später tot sein würde?
Kard. Ratzinger: Ich hatte den Eindruck, daß es ihm gut geht. Gewiß, er schien nicht gerade ein Mann von starker physischer Gesundheit zu sein. Aber wie viele Menschen wirken schwächlich, und werden dann hundert Jahre alt. Auf mich wirkte er wie jemand, der gesund ist. Ich bin kein Arzt, aber auf mich machte er den Eindruck, jemand zu sein, der, wie ich selber auch, nicht gerade von starker körperlicher Konstitution ist. Aber diese Menschen haben nicht selten eine höhere Lebenserwartung.
Sein Tod kam für Sie also vollkommen unerwartet?
Kard. Ratzinger: Ja, vollkommen unerwartet.
Sind bei Ihnen Zweifel aufgekommen, als man zu munkeln begann, daß der Papst keines natürlichen Todes gestorben wäre?
Kard. Ratzinger: Nein.
Der Bischof von Belluno-Feltre, der Salesianer Vincenzo Savio, hat angekündigt, am 17. Juni das nihil obstatÑder Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse erhalten zu haben; das bedeutet, daß der Seligsprechungsprozess des Dieners Gottes Albino Luciani eingeleitet werden kann. Wie denken Sie darüber?
Kard. Ratzinger:: Ich selbst habe keinen Zweifel daran, daß er ein Heiliger war. Wegen seiner großen Güte, Einfachheit, Demut. Und wegen seines großen Mutes. Er hatte den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn er damit gegen den Strom schwamm. Und schließlich auch wegen seiner großen Kultur des Glaubens. Er war ein Mann von hoher theologischer Bildung, versehen mit ausgeprägtem Pastoralsinn und reichen seelsorgerlichen Erfahrungen. Seine katechetischen Schriften sind von großem Wert. Und wunderschön ist auch sein Buch Illustrissimi, das ich unmittelbar nach seiner Wahl gelesen habe. Ja, ich bin fest davon überzeugt, daß er ein Heiliger ist.
Obwohl Sie ihm nur dreimal begegnet sind?
Kard. Ratzinger: Ja, und das war ausreichend dafür, daß mir seine leuchtende Gestalt diese Überzeugung einflößte.
Welche Stimmung herrschte beim zweiten Konklave von 1978 im Kardinalskollegium vor?
Kard. Ratzinger: Nach diesem unerwarteten Tod waren wir alle etwas deprimiert. Es war ein schwerer Schlag gewesen. Gewiß, auch der Tod von Paul VI. hatte uns mit Trauer erfüllt. Aber Montinis Leben war ein erfülltes gewesen. Ein Leben, das einen natürlichen Abschluß gefunden hatte. Er selbst wartete auf seinen Tod, sprach von seinem Tod. Nach einem so großen Pontifikat hatte es einen neuen Anfang gegeben mit einem Papst ganz anderer Art, aber doch in voller Kontinuität. Daß die Vorsehung dann aber zu unserer Wahl „nein“ gesagt hatte, war wirklich ein schwerer Schlag. Auch wenn die Wahl Lucianis kein Fehler gewesen war. Diese dreiunddreißig Tage Pontifikat hatten in der Kirchengeschichte durchaus ihre Bedeutung.
Welche?
Kard. Ratzinger: Das Zeugnis der Güte und eines frohen Glaubens. Aber nicht nur das: dieser unerwartete Tod machte auch etwas Unerwartetes möglich. Die Wahl eines nicht-italienischen Papstes.
Hatte man eine solche Hypothese beim ersten Konklave von 1978 in Betracht gezogen?
Kard. Ratzinger: Man hat auch davon gesprochen. Aber es war nicht sehr naheliegend, auch, weil da die positive Gestalt Albino Lucianis war. Danach dachte man, daß es etwas ganz Neuem bedurfte.